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ATV "Georges Lemaitre" soll am 12. August die Raumstation erreichen

Geschrieben am 11.08.2014 in Kategorie: Missionen der bemannten Raumfahrt

Mit dem fünften Raumfrachter endet die Ära der europäischen ISS-Transporter - Interview mit DLR ATV-Programm-Manager Volker Schmid

Nach seinem Bilderbuchstart am 30. Juli 2014 ist das fünfte und letzte Versorgungsraumschiff der europäischen ATV-Reihe auf dem Weg zur Internationalen Raumstation ISS. Der nach dem belgischen Begründer der Urknall-Theorie "Georges Lemaitre" benannte Frachter, der ungefähr so groß ist wie ein Londoner Doppeldeckerbus und inklusive Gepäck mehr als 20 Tonnen wiegt, soll am 12. August um 15.34 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit an der Raumstation andocken und für mindestens fünf Monate die ISS mit Treibstoff, Nahrung und neuen Experimenten versorgen. Deutschland war federführend am ATV-Programm der Europäischen Weltraumagentur ESA beteiligt und hat rund 48 Prozent der Beiträge des rund 3 Milliarden schweren Programms finanziert. Die Rolle und Bedeutung dieses komplexesten jemals in Europa gebauten Raumtransporters erläutert Volker Schmid, ATV-Programm-Manager beim Raumfahrtmanagement des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR).

Interview von Elisabeth Mittelbach

Wo befindet sich das ATV momentan und was ist seit seinem Start am 30. Juli vom europäischen Raumfahrtzentrum in Kourou passiert?

Alles läuft nominell. Nach seinem Start an Bord einer Ariane-5-Trägerrakete ist "Georges Lemaitre" auf etwa 260 Kilometern Höhe im Orbit ausgesetzt worden. Bis zum geplanten Docking am 12. August fliegt ATV-5 vollautomatisch verschiedene Manöver, um sich der Raumstation nach und nach anzunähern. Für den heutigen Freitag (8. August, Anmerkung des AVGB) ist zudem die LIRIS-Kampagne vorgesehen. Das heißt, der Raumtransporter fliegt unter der ISS durch, steigt dann in die Höhe und lässt die Raumstation unter sich vorbeifliegen. Im Gegensatz zu den bisherigen ATVs trägt ATV 5 zusätzlich noch ein neues Sensorenpaket als Experiment an seiner Frontseite, das die ISS in besserer Qualität als bisher abbilden kann. das ATV berechnet seine relative Lage und Orientierung aus einer optischen Information, die durch die Reflexion seiner Laser an der Außenseite des russischen Zvesda-Moduls entsteht. Wir erhoffen uns von LIRIS bessere Sensordaten. Diese sind Voraussetzung für die Bildauswertung, damit künftige Systeme "intelligenter" werden und ohne Reflektoren auskommen können. Solche neuen Systeme könnten auch bei verlorengegangenen Satelliten und deren Deorbiting-Verfahren eine Rolle spielen.

Das erste ATV brauchte drei Wochen bis zum Andocken an die ISS, das Sojus Raumschiff mit Alexander Gerst gerade mal sechs Stunden. Warum dauert das so unterschiedlich lange?

Theoretisch wäre ein Anflug mit Andocken innerhalb von drei bis vier Tagen möglich. Das hängt aber mit dem Zeitfenster zusammen, in dem optimale Bedingungen für das hochkomplexe Manöver herrschen. So bestimmt beispielsweise der Winkel der Sonneneinstrahlung zur Bahnebene der Raumstation die relative Orientierung der ISS bei ihrer Bahn um die Erde - das ist wichtig für die konstante Energieversorgung über die Solargeneratoren und auch die Temperaturkontrolle von ISS und somit auch von ATV. Die Kamera, die das Andockmanöver dokumentiert, darf ebenfalls nicht geblendet werden. Vor jedem Besuch eines Transporters gibt es natürlich auch eine Menge an Vorbereitungen durch die Astronauten zu treffen, was eine gewisse Zeit braucht. Zudem kommt es darauf an, wie stark frequentiert der Andock-Knoten ist. Am russischen Zvesda-Modul am "Heck" der ISS legen auch die russischen Raumfrachter Progress und Sojus an, die jedoch beide kleiner sind als das ATV. Bei Jules Verne, dem erste ATV, das 2008 gestartet ist, wurden zum Beispiel während des Anflugs sämtliche Tests und Notfallprozeduren durchgespielt, deshalb hat es verhältnismäßig lange gedauert. Minimum sind meiner Ansicht nach drei Flugtage. Für das letzte ATV ist der 12. August als ideales Docking-Fenster festgelegt worden.

Wie verläuft das Docking von ATV-5 und welche Aufgabe hat der deutsche ESA-Astronaut Alexander Gerst, der gerade auf der ISS ist?

Der erste imaginäre Haltepunkt für die finale Anflugphase beginnt etwa 40 Kilometer hinter und fünf Kilometer unterhalb der ISS, das ist zwischen drei und dreieinhalb Stunden vor Ankunft an der Raumstation. Das ist auch einer der kritischen Zeitpunkte, denn da wird die "Kommunikation" zwischen ATV und der ISS aufgenommen. An Bord der ISS werden dann entsprechend den Prozeduren etwa das KURS-Radar geschaltet und die Achse der großen Solargeneratoren wird arretiert. Wenn das ATV ankommt, sollte der Stoß nicht zu hart sein, immerhin docken 20 Tonnen an. Das ist dann doch anders als zum Beispiel bei der Progress mit sieben Tonnen. Alexander Gerst wird das Manöver vom Kontrollpunkt im Zvesda-Modul überwachen. ATV muss innerhalb eines kegelförmigen Anflugkorridors von vier Grad auf die ISS zusteuern. Das kann Gerst auf dem Bildschirm anhand einer Schablone überprüfen. Mit dem Schaltpult kann er ATV stoppen, es auf den letzten Haltepunkt zurücksetzen, den Anflug wieder aufnehmen oder auch eine Not-Aus-Funktion auslösen. Bisher gab es beim Docking aber nie Probleme.

Was sind die wesentlichen Unterschiede der ATV zu den anderen ISS-Raumtransportern?

ATV ist das schwerste, größte, komplexeste und vielseitigste Raumfahrtzeug. Das heißt jetzt nicht, dass die anderen nicht vielseitig sind, alle Transporter sind sehr gut aufeinander abgestimmt, die Entwicklungen von ATV und HTV haben vor rund 20 Jahren begonnen. Das ATV ist zudem das einzige Vehikel, welches mit der Größe und Masse vollautomatisch an die ISS andocken kann. Das russische Progress kann zwar auch automatisch andocken, ist aber deutlich kleiner und hat somit weniger Nutzlast. Das ATV hat aber beispielsweise das Radar und den Kopplungsadapter der Progress und Sojus, weil sich diese bewährt haben. Das ATV kann - wie Progress - die ISS auf ihrer Umlaufbahn anheben, und rund 860 Kilo Treibstoff per Knopfdruck in das russische Servicemodul Zvesda umpumpen. Der japanische Frachter HTV befördert maximal 16 Tonnen Fracht und fliegt den amerikanischen Teil am "Bug" der Raumstation an. Das HTV dockt nicht automatisch an, sondern "parkt" in rund zehn bis 15 Metern Entfernung vor der ISS und wird dann mit dem Manipulator-Arm von den Astronauten manuell an die Station herangeführt. Das HTV macht zudem keine Bahnanhebungen und keinen Treibstofftransfer. Dafür hat sein Docking-Adapter eine lichte Weite von 1,20 Meter - das heißt, hier können Experiment-Vorrichtungen und Racks in einem Stück in die ISS transportiert werden. Die Öffnung am Zvesda-Modul ist kleiner, deshalb müssen die Racks in ihre einzelnen Einschübe zerlegt werden. Bei ATV-5 muss Alexander Gerst zum Beispiel das deutsche EML-Experiment an Bord der ISS wieder zusammenbauen. Auch die beiden kommerziellen amerikanischen Raumfrachter Cygnus und Dragon, die seit 2012 das Space Shuttle ersetzen, können nicht automatisch docken.

Wie "deutsch" ist ATV5?

Zwischen 45 und 48 Prozent der ATV-Beiträge stammen aus Deutschland. Alle ATV sind bei Airbus Defense & Space (ADS) in Bremen zusammengebaut und getestet worden. Insgesamt sind mehr als 30 Firmen aus zehn europäischen Ländern im Boot, ADS als Hauptauftragnehmer im ESA-Auftrag, MT Aerospace und die OHB System AG für die Tanks und die Verkabelung der Antriebssektion. ADS integriert das Antriebssegment, baut ATV zusammen und testet es. Jena Optronik ist mit Sensoren beteiligt, Azur Space Solar Power mit den Solarzellen, um nur einen Einblick zu geben. Das DLR Raumfahrtmanagement betreut das Projekt und nimmt die Delegiertenfunktion bei der ESA war, um die Programmatik zu steuern. Beim deutschen Raumfahrtkontrollzentrum beim DLR in Oberpfaffenhofen wird die Kommunikation zwischen dem ISS- Kontrollzentrum in Moskau und dem ATV-Kontrollzentrum in Toulouse koordiniert. Das DLR in Göttingen war an der Entwicklung der Steuerdüsen beteiligt. Auch die die aktuelle Nutzlast hat ja einen sehr signifikanten deutschen beziehungsweise DLR-Anteil.

Wie geht es nach der Mission von "Georges Lemaitre" im Raumtransport weiter?

Das Europäische Service Modul (ESM) für die neue amerikanische Orion-Kapsel (Multi-Purpose-Crew-Vehikel, MPCV) basiert wesentlich auf der europäischen ATV-Technologie. Erstmals begeben sich unsere amerikanischen Partner damit in eine gewisse Abhängigkeit und nehmen uns mit auf einen kritischen Pfad. Alle ATV-Missionen waren bislang erfolgreich, das hatte uns Europäern wohl kaum einer wirklich zugetraut. Bei 28.000 Stundenkilometern millimetergenau und "weich" anzudocken, das ist schon etwas Einzigartiges. Die ATVs stehen für Speerspitzentechnologie. So wie die D1- und D2-Mission die Eintrittskarte waren für das Columbus-Labor und die bemannte Raumfahrt der Europäer auf Augenhöhe mit den Russen und den Amerikanern, so ist ATV jetzt auch ein Garant dafür, dass wir überhaupt bei dem amerikanischen MPCV mitmachen. Ohne ATV wären wir überhaupt nicht in der Lage, ein Orion-Service-Modul zu bestücken und zu bauen. Im März 2011 hat die ESA beschlossen, die ATVs einzustellen und ATV-6 umzuwidmen in eine Entwicklungsaktivität, nämlich das MPCV-Servicemodul. Der Finanzwert von 452,3 Millionen Euro für das MPCV-ESM ist der Wert von ATV 6, den haben wir jetzt konvertiert. Dabei wandert die Technologie nicht ab in die USA. Es ist ein Tauschhandel: Wir bauen hier was auf - ATV - und bekommen dafür Nutzungszeit auf der ISS. Das MPCV wird - wie das ATV - federführend in Bremen entwickelt und gebaut.

Quelle

DLR - Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V.
Das DLR (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V.) ist die deutsche Raumfahrtagentur. Es wurde 1969 durch den Zusammenschluss mehrerer Einrichtungen gegründet.

Webseite: http://www.dlr.de

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Gut sichtbar sind die optischen Sensoren für die Annäherung (unten), das LIRIS Experiment (links), die Sternsensoren (links und rechts oberhalb des Andockadapters), die beleuchtbaren Fadenkreuze (oben) und die KURS-Radarantenne (rechts).
© ESA
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© DLR (CC-BY 3.0)